Weihnachtsbotschaft des Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus' KIRILL

an die Oberhirten, Hirten, Diakone, Mönche und Nonnen

und alle treuen Kinder

der Russischen Orthodoxen Kirche


Im HERRN geliebte Oberhirten,

hochwürdige Priester und Diakone, gottliebende Mönche und Nonnen,

liebe Brüder und Schwestern!


Die unsagbare Liebe Gottes sammelte uns heute, um in der Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens (Eph 4, 3) einem der feierlichsten und zugleich geheimnisvollsten Feste der Kirche zu begegnen – der Geburt unseres Herrn Jesu Christi. Indem ich das Kommen des Heilands in die Welt preise, beglückwünsche ich euch alle, meine Lieben, zu diesem freudigen Ereignis, welches eine neue Epoche in den Beziehungen zwischen Gott und Menschen eröffnete.

Jedes Mal, wenn wir das vor zwei Jahrtausenden Geschehene betrachten, versuchen wir, die Erhabenheit des Wunders der Menschwerdung Gottes zu begreifen, und hören nicht auf, uns über die Güte und die Gnade unseres Schöpfers zu wundern. Jahrhundertelang lechzte die Menschheit gespannt im Warten auf den vom Herrn versprochenen Herrscher (Gen 49, 10): den gerechten und siegreichen König (Sach 9, 9), auf den die Völker hoffen werden (Röm 15, 12). Und nun, da die Fülle der Zeiten endlich eintrat, ist uns ein Kind geboren (Jes9, 5), damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe (Jo 3, 16). Gottes Liebe, die alle Erkenntnis übersteigt (Eph 3, 19), sandte in die Welt keinen Fürbitter und keinen Engel, keinen starken und mächtigen Herrscher, wie die Menschen dachten - Gott selbst ist vielmehr ein Mensch geworden, um damit den Menschen von der Macht der Sünde und des Übels zu befreien.

Es ist bewundernswert, dass das größte Ereignis der Geschichte, welches die Propheten des Alten Testaments verkündeten und welches sogar die hervorragenden Denker des Altertums vorahnten, sich so bescheiden und äußerlich unbemerkbar vollzog. Bethlehem schlief. Jerusalem schlief. Ganz Judäa schlief. Der Allmächtige Herr – der König der Könige und Herrscher des Weltalls – ist der Welt nicht mit festlichen Klängen des Hörnerschalls (Ps 150, 3) und des allgemeinen Jauchzens offenbart worden, sondern demütig und sanftmütig, in der Nachtruhe einer armen Höhle, indem Er von der Engelschar und wenigen Hirten gelobt wurde, die kamen, um das Ereignis zu sehen, das der Herr kundgetan hat (Lk 2, 15).

       Im Anfang seines irdischen Weges will der Herr gleich wie „in den Grenzen der Demütigung das Tugendbild zeigen“ - denkt der hl. Johannes Chrysostomos nach. So edel agiert nur die vollkommene Liebe, die nicht das Ihre sucht (1 Kor 13, 4-5), die sich nicht zur Schau stellt und keine Ehre und keinen Ruhm fordert, sondern bereit ist, um des Nutzens der Nächsten willen alle Strapazen und Bedrängnisse zu ertragen. „Genau deswegen, - fährt der Kirchenlehrer fort, - nimmt der Herr meinen Leib an, damit ich Sein Wort einpassen kann, und, indem Er mein Fleisch annimmt, mir Seinen Geist gibt, um mir den Lebensschatz durch das Geben und durch die Annahme zu vermitteln“ (Weihnachtshomilie). Dadurch ist uns wohl die überreiche Liebe Gottes offenbart worden, dass wir den wahren Lebensschatz bekamen – den Herrn selbst, denn aus Ihm und durch Ihn und auf Ihn hin ist alles (Röm 11, 36).

       Liebe ist der wahre Grund und die Triebkraft göttlicher Handlungen. Gott brachte die Welt ins Sein und schuf den Menschen, indem Er ihn ausgiebig mit Gaben beschenkte. Aus Liebe kam Er, um den Menschen zu retten, als jener aus der Gemeinschaft mit seinem Schöpfer schied. Nach der Bestimmung des Schöpfers besteht der ganze Sinn des menschlichen Lebens darin, dass wir einander lieben (Jo 14, 34). Wie aber kann dies in der Welt, wo es so viel Übel und Hass gibt, erreicht werden? Dafür ist es vor allem notwendig, sein eigenes Herz zu öffnen und es Gott zu geben. Nur Er kann es ändern und weit machen, damit es, welches heute so kränklich und begrenzt ist, befähigt wird, Nächsten und Fernen, Wohl- und Übeltätern, all jene aufzunehmen, wie wir gemäß dem Gebot Christi aufgerufen sind, indem wir unseren himmlischen Vater in Vollkommenheit (Mt 5, 48) nachahmen. Indem wir uns im Gebet vor dem neugeborenen Gotteskind verbeugen, lasst uns bedenken, welche Gabe wir dem Herrscher des Weltalls bieten. Kann es überhaupt etwas geben, was der Majestät des Ewigen Schöpfers würdig und angemessen wäre? Ja, es gibt eine solche wertvolle Gabe, die der Herr am meisten will: unser demütiges, liebendes und erbarmendes Herz. Lasst uns den menschgewordenen Christus nicht nur durch schöne Gesänge und Glückwunschschreiben preisen, sondern vornehmlich durch gute Werke. Lasst uns die helle Weihnachtsfreude mit den Bedürftigen teilen, die Nächsten mit unserer Fürsorge erwärmen, die Kranken und Bedrängten besuchen. Lasst uns die Kleinmütigen trösten und unterstützen, alle Verwirrten und Trauernden mit dem Gebet einhüllen.

Die große und heilbringende Liebeskraft heilt Gleichgültigkeit und Bosheit, Hass und Beleidigungen. Sie mildert das Verhalten der Verbitterten und stellt viele gesellschaftliche Schieflagen richtig! Wenn wir so handeln, erfüllen wir wahrhaftig unsere eigene hohe christliche Berufung, denn durch dieses Ausgießen der Liebe werden wir, dem Wort des ehrwürdigen Isaak des Syrers nach, Gott ähnlich (Asketische Worte, 48).

Das Geheimnis der Menschwerdung ist das Geheimnis der wahrhaften Gegenwart Gottes in der Welt. Der Apostel und Evangelist Johannes bezeugt, indem er das Leben des künftigen Äons voraussieht, die vollständige Gegenwart des Herrn mit den Menschen: Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und Gott selbst wird mit ihnen sein, ihr Gott“ (Offb 21, 3). Dieses unsagbare Geheimnis der göttlichen Gegenwart beginnt jedoch ihre Verwirklichung schon da, mit der Geburt des Erlösers auf der Erde, denn die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe gekommen (Mk 1, 15) Wir treten sichtbar in diese Realität ein, indem wir die Eine Heilige Kirche Christi bilden, durch welche wir alle, meine Lieben, die Gesandten und Vertreter dieses hohen Reiches der Liebe sind. Dieses erstaunliche und tiefe Erlebnis des „Gott mit uns“ stellt das Wesen des geheimnisvollen, verborgenen Lebens der Kirche dar.

Erinnern wir uns daran, dass, da der Allmächtige selbst – das A und das O, der Erste und der Letzte (Offb 22, 13) – die menschliche Geschichte umarmte und versprach, bei uns alle Tage bis an der Welten Ende (Mt 28, 20) zu bleiben, uns die alarmierenden Umstände der heutigen Zeit keineswegs Furcht machen und uns ängstigen sollen. Indem wir die große Liebe des Heilands erwidern, lasst uns lernen, uns dem Herrn völlig anzuvertrauen und auf seine gütige Vorsehung zu hoffen, um bis zum Zweiten herrlichen Kommen Christi und bis an das Ende der Welt (Apg 1, 8) freimütig und freudig bezeugen zu können, dass Gott mit uns ist!


PATRIARCH VON MOSKAU UND DER GANZEN RUS’


Weihnachten

2023 / 2024

Moskau